Dr. Eberhard Veit: “In einigen Unternehmen herrscht regelrecht Aufbruchsstimmung”

Wir haben Dr. Eberhard Veit,  Mitglied des Aufsichtsrats zahlreicher Mittelständler, aber auch der  Robert Bosch GmbH, Mitte Juli zur Situation der Industrieunternehmen nach Corona befragt. Veit sieht bei Innovation und Digitalisierung positive Perspektiven für Unternehmen, die jetzt nicht in ein “Mentalkoma” verfallen.     Herr Dr. Veit, wo steht die mittelständische Industrie jetzt – im Juli – bei der Bewältigung der Corona-Krise? Werden wir eine V-Kurve sehen – eine schnelle Erholung nach dem Muster der Krise von 2008? Nein, ich denke, dass eine Wiederbelebung wahrscheinlicher ist, die wie eine Treppe in Stufen verläuft. Auf jeder der Stufen geprägt durch Unternehmen, die ihrerseits Impulse geben können für die Unternehmen, die dann in der nächsten Stufe aus der Nachfragekrise herauskommen. Dafür sprechen auch die Zahlen, die beim VDMA vorliegen. Und welche Unternehmen sehen Sie denn da als erste Impulsgeber? Das sind Unternehmen – wie etwa Stihl, Wagner, Kärcher, Bizerba und andere – die in der Corona-Zeit ihre Märkte nicht verloren haben und diese sehr gut bedient haben, aber bei den Investitionen zurückhaltend waren. Diese geben jetzt über Investitionen und Motivation Impulse an andere Unternehmen weiter. Ich nenne das einen umgekehrten psychologischen Domino-Effekt. Dabei müssen allerdings Fehler vermieden werden: Jetzt in eine Preiskonkurrenz um Marktanteile zu treten, wäre unternehmerisch kurzsichtig.

Corona ist ein sehr lauter Weckruf, der wirklich wirkt.

Ein Anliegen von Ihnen war immer, dass die Industrieunternehmen bei der Digitalisierung mehr Tempo machen müssten. Inwiefern war und ist die Corona-Krise dabei ein Antrieb? Corona ist ein sehr lauter Weckruf, der wirklich wirkt. Digitalisierung, KI, neue Prozesse, höhere Flexibilität – das sind die Felder, in denen auch in kleineren Unternehmen jetzt eine neue Priorisierung erfolgt. Da werden jetzt bislang unantastbare Dinge infrage gestellt. Viele Firmen stellen alle Entwicklungsprojekte auf den Prüfstand und untersuchen neu, ob diese die Digitalisierung nach vorne bringen. In digitale Plattformen für den Vertrieb, die Beratung der Kunden, Engineering und bei den Services wird massiv investiert. Der Effekt in Zahlen: Die 32 Prozent, die der durchschnittliche Maschinenbauer über digitale Plattformen oder digitale Vertriebsoberflächen heute verkauft, wird bis 2025 fast doppelt so hoch sein. Bei einem mittelständischen Unternehmen aus Baden-Württemberg, das heute 17 Prozent digital verkauft, wurde diese Woche beschlossen, diesen Anteil bald auf über 50 Prozent steigern. Engineering-Plattformen, auf denen Kunden online ihre Lösungen konfigurieren, wachsen ebenfalls stark. Wer heute 40 Prozent seiner Lösungen darüber vertreibt, wird in Kürze bis zu 70 Prozent digital absetzen. Services können bis zu 80 Prozent über digitale Plattformen abgebildet werden. Firmen erreichen jetzt schon eine größere Kundenzufriedenheit, wenn sie digitale Tools intelligent und begleitend zur Beratung einsetzen. Aber das mit der Monetarisierung muss noch deutlich besser werden,…eine große Herausforderung! Und was bedeutet das für die bestehende Vertriebsorganisation, die ohnehin unter der eingeschränkten Mobilität leidet? Über die digitalen Plattformen bekommt der Vertrieb eine neue Funktion. Er wird zum “Enabler” bei den Kunden für die intelligente Nutzung der digitalen Plattformen, heißt die Kunden mit diesem Tool vertraut zu machen und heranzuführen. Dabei kommt eine zentrale Kategorie im Vertrieb zu neuer Geltung – das Vertrauen. Es durch Hilfe und echte Unterstützung auszubauen, wird der Inhalt der persönlichen Begegnung. Krisengewinner werden Unternehmen sein, die genau durch diese Kombination von digitaler Plattform und persönlicher Beratung performen können. Ich denke, wir werden bei den digitalen Tools für Kommunikation, die in der Corona-Zeit eingesetzt wurden und nun geübte Praxis sind, in Kürze eine Evolution sehen – hin zu einer virtuellen Abbildung realer Arbeitsplätze und Arbeitsplatz-Situationen, in der zum Beispiel gemeinsam konstruiert, debattiert und auch überwacht wird. Das muss alles noch lebensnäher und praktikabler werden: Eine echte virtuelle Realwelt.

Es gibt eine große Bereitschaft, gemeinsam an neuen Lösungen zu arbeiten

Setzt Corona also lange blockierte Ressourcen für Innovation frei? Ambidextrie – neue Dinge angehen, gleichzeitig das Bestehende besser machen – ist das Stichwort für viele Unternehmen. Es gibt zwar Unternehmen, die sich jetzt gegen alle so scheinbar widrigen Trends ein-igeln und in eine Art “Mentalkoma” verfallen. Es gibt aber auch Unternehmen, die jetzt an allen nur möglichen Stellschrauben drehen und sich in völlig neue Themen vorarbeiten. Nehmen Sie Bosch als Beispiel, das Masken, Tests und digitale Applikationen für die Medizin entwickelt. Oder der Mittelständler Wagner in Markdorf, der aus Farbspritzgeräten Desinfektionsgeräte für Busse, Bahn und Industrie gemacht hat und so deutlich Geschäft dazugewinnt. Nach dem Motto: “vom Kreuz steigen und sich selber helfen”. Und dazu gehört auch eine große Bereitschaft, in der Anwendung von Technologien sehr eng zusammenzuarbeiten – sei es bei der Entwicklung von komplementärer Technik. beim Sharing von Ressourcen, wie etwa bei einer gemeinsamen Beteiligung an Start-ups mit interessanten Digitallösungen für die Industrie. Dadurch werden nicht nur Kosten minimiert, sondern der Blickwinkel weiter. Und die Gesellschafter, Aufsichtsräte, Belegschaften gehen da mit – trotz Krise? Es ist interessant, dass eine befürchtete Abschwächung des Euro derzeit dazu beiträgt, dass vorhandene Liquidität gerade stärker in Zukunftsprojekte fließt. Es gibt den Trend, Profitabilität gegen Innovation zu tauschen, von der man in der Vergangenheit geglaubt hat, dass man sie sich nicht leisten könnte. Es ist leichter geworden, Gesellschafter und Aufsichtsräte davon zu überzeugen, jetzt Abstriche am Ergebnis hinzunehmen, um später über digitale Plattformen zu verfügen oder allgemeiner gesagt, zukunftsfähiger zu sein. Mitarbeiterbefragungen in den Unternehmen haben übrigens auch einen weiteren Trend offengelegt: Eine messbar stärkere Identifizierung der Mitarbeiter mit ihren Unternehmen, gerade in der Zeit des Lockdowns. Es herrscht in einigen Unternehmen eine regelrechte Aufbruchsstimmung. Die Zeit für Innovation ist jetzt da.

Technologisch sinnvolle Übernahmen innerhalb Deutschlands sind eine wahrscheinliche Entwicklung

Trotzdem stellt sich ja die Frage nach dem Durchhaltevermögen der Unternehmen – immerhin ist der Einbruch der Nachfrage schon massiv… Wenn das vorher für Sie zu positiv geklungen hat: Ja, es gibt auch Unternehmen, die jetzt Perspektiven und Motivation verlieren. Die sind dann ein Thema für Übernahmen und eine Konsolidierung. Ich sehe drei Trends. Erstens wächst in Deutschland die Nachfrage nach und die Bereitschaft zu Beteiligungen. Die Attraktivität deutscher Firmen ist aber zweitens im Weltmaßstab geringer geworden, Deutschlands Industrie wird in Sachen Innovationskraft als nicht so dynamisch wahrgenommen. Drittens gibt es bei internationalen Übernahmen vor dem Hintergrund der geopolitischen Spannungen und Handelskonflikte eine gewisse Zurückhaltung. Auf das eigene Standing zu schauen und die eigenen Stärken in der Spitzentechnologie zu entwickeln, das ist derzeit bei chinesischen Partnern sehr viel stärker ausgeprägt als noch vor zwei, drei Jahren. Technologisch sinnvolle Übernahmen, getätigt von finanzstarken Familienunternehmen, die die Digitalisierung voranbringen und auch Lieferketten resilienter machen, sind innerhalb von Deutschland deshalb die wahrscheinlichere Entwicklung.

Spannend ist, welche künftigen Kompetenzen im Inland gehalten werden

Wie realistisch ist die Idee von der “Autarkie” und der regionalen Abgrenzung von industriellen Lieferketten? Es ist sicher keine schlechte Idee, bei Lieferketten jetzt einmal Resilienz vor den Preis zu setzen. Lieferqualität bleibt ein zentrales Leistungsversprechen. Um soviel besser zu sein, wie man teurer ist – diese Maxime rückt noch stärker in den Vordergrund. Die eigene Wertschöpfungstiefe ist ein weiterer Aspekt. Wenn in den eigenen Werken die Auslastung fehlt, gibt es Produktion, die auf einfache Weise “zurückgeholt” werden kann. Aber man sollte sich nichts vormachen: Was in 10, 15 Jahren an Globalisierung bei den Lieferantenmärkten und in der eigenen Herstellung aufgebaut wurde, kann nicht in ein paar wenigen Monaten zurückgebildet werden. Es sind höchstens drei, fünf oder auch mal acht Prozent, was an Fertigungstiefe zurückgewonnen werden kann. Die spannende Frage ist für mich jetzt mehr, was man in Zukunft gerade nicht ins Ausland verlagern sollte. Wasserstoffwirtschaft, KI, Quanten-Computing sind Themen, die man hier in Deutschland und Europa nachhaltig neu aufbauen sollte, um Wettbewerbsfähigkeit und auch Stabilität der Beschäftigung zu sichern. Für solche Innovationen sind derzeit auch die Belegschaften zu motivieren.

Smarte Skaleneffekte an jedem Standort – die beste Vorsorge gegen die drohende Abschottung der globalen Handelsräume

Globalisierung als Strategie, in den Märkten präsent zu sein und Produktionsverbünde optimal zu organisieren, hat also noch nicht ausgedient? Die Präsenz in den globalen Märkten und die wechselseitige Belieferung der Standorte kann intelligent weiterentwickelt werden. Analytiker bei Accenture diskutieren gerade, wie die Zukunft einer globalen Fertigung eben nicht mehr in Masse und höchster Roboterisierung liegt, sondern in smarter Flexibilität bei den Prozessen. So sind auch Standort für Standort – local for local – Skaleneffekte zu erreichen. Statt nur in einem Werk dann an drei Standorten wirtschaftlich fertigen zu können, ist angesichts der drohenden Abschottung der globalen Handelsräume gegeneinander eine sehr wichtige Option. Dazu gehört auch eine Architektur für die Unternehmenssteuerung, die das abbilden kann und so die regionalen Produktionszentren stützt.

Der reine Elektroantrieb wird zu einer Randtechnologie werden

Sehen Sie, dass diese Themen in der Industriepolitik seit Corona reflektiert werden? Die Politik ist im Moment sehr stark daran orientiert, Lösungen zu eng vorzugeben und somit die Industrie einzuengen. Sie sieht sich viel zu wenig als “Enabler”, der die Infrastruktur vorgibt, also hervorragende Rahmenbedingungen schafft. Industrielle Entwicklung zu begleiten, heißt nicht vorzuschreiben, wie diese zu erfolgen hat. Verbrennungsmotoren zu verbieten oder soviel Unsicherheit zu stiften, dass keiner mehr kauft, ist das eine. Neue Technologien sinnvoll zu fördern wäre das andere. In Deutschland sind 24 Prozent der Autos zwölf Jahre und älter. Wenn sie durch moderne, abgasärmere Fahrzeuge ersetzt würden, wäre ein gewaltiger Effekt für die Umwelt erzielt, für den die Elektromobilität noch lange Jahre brauchen wird. Die Kompetenz und Innovationskraft, die die Industrie bei den Verbrennungstechnologien und auch beim Wasserstoff aufgebaut hat, einfach abzuwürgen, wäre ein sehr großer Fehler. Und ich sage es gerne noch provozierender: Der Lebenszyklus des reinen Elektroantriebs für das Auto ist jetzt schon zu einem Drittel abgelaufen. In zehn bis zwölf Jahren wäre das Thema also durch – das wird dann zu einer Randtechnologie werden, mit der wir die umweltpolitischen Herausforderungen nicht schaffen werden. Das klingt jetzt aber eher skeptisch… Es gibt zum Glück aber auch Investitionen der Automobilindustrie und auch Forschung, die einen Blick auf die Zukunft jenseits der Elektromobilität bewahrt haben. Es ist nur schade, dass so viele Besucher der tollen Forschungsanlagen des Karlsruher KIT für synthetische Kraftstoffe aus Fernost stammen… Gut ist es auch, wenn wir auch im Bildungssystem jetzt digital nach vorne kommen. An den Hochschulen in den persönlichen Begegnungen wird es eine Konzentration auf das Soziale, das Miteinander im Team oder die gemeinsame Arbeit an der Hardware, im Labor geben. Ich bin sicher, dass die Basistechnologien und das Wissen, das früher über Vorlesungen geteilt wurde, leichter online zu vermitteln sind. Es ist auch gut, dass Hochschulen, wie unsere hier in Göppingen, mit Unterstützung der Industrie helfen, die digitale Zukunft der industriellen Produktion praktisch zu erproben. Die Bereitschaft, neue Dinge zu starten, ist in der Breite jetzt viel stärker als früher.

27.07.2020
von Editorial Team
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