Prof. Rainer Lindner: “Wir wollen im permanenten Stresstest bestehen”
Prof. Dr. Rainer Lindner ist Vorsitzender des Vorstands der Heine + Beisswenger Stiftung + Co. KG. Er hält die Flexibilität und Kundennähe eines familiengeführten Unternehmens für die beste Basis, die gleichzeitigen Herausforderungen von Geopolitik und Digitalisierung erfolgreich zu bewältigen.
Herr Prof. Lindner, welchen Herausforderungen sieht sich ein mittelständisches und über viele Jahrzehnte erfolgreiches Unternehmen wie Heine+Beisswenger in diesem Sommer 2024 gegenüber?
Nach einer Phase der Hochkonjunktur und sehr starker Nachfrage noch bis in das Jahr 2021 gibt es eine ganze Reihe von Veränderungen, denen wir uns stellen müssen: Von den auf den russischen Angriffskrieg folgenden Sanktionen über die deswegen notwendige Suche nach neuen Beschaffungsmärkten bis hin zu den ohnehin großen Aufgaben der Dekarbonisierung und der Digitalisierung – und das alles auch noch in einer deutlich fühlbaren Rezession, quer durch unsere wichtigsten Kundenmärkte wie etwa der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau. Das ist ein permanenter Stresstest. Aber den wollen wir bestehen und dazu mit neuen Geschäftsmodellen, nachhaltigeren Produkten und der digitalen Transformation Weichen für die Zukunft unseres Traditionsunternehmens stellen. Es gilt auch in diesen Veränderungen Flexibilität, Serviceorientierung, Kundenzufriedenheit zu sichern. Das fordert alle hier im Haus.
Sprechen wir zunächst über die Beschaffungsmärkte seit 2022. Sie waren gezwungen, zum Import aus Russland, Belarus und auch der Ukraine ganz schnell Alternativen zu finden…
Wir haben diese in der Türkei und vor allem in Asien gefunden: China, Korea, Indien, wo wir natürlich schon geraume Zeit aktiv waren – aber eben bei weitem nicht in dem Umfang, in dem wir das jetzt sind. Die Lieferanten nehmen uns in Sachen Qualität und Service als gut positionierten Player im deutschen Stahlhandel wahr. Denn wenn Sie als Einkäufer beispielsweise einem großen Stahlwerk in China gegenübertreten, das eine wichtige Rolle als regionaler Versorger hat, müssen Sie schon mit guten Kunden überzeugen. Das ist uns durchaus gelungen.
Stichwort Nachhaltigkeit. Sie engagieren sich mit mehreren Partnern entlang der Wertschöpfungskette in einer “grünen Stahlallianz” – was sind die Ziele?
Es geht für uns darum, die Zukunft mitzugestalten. Wir haben wir mit dieser Initiative schon im Herbst 2021 begonnen und dabei sowohl unsere Lieferanten wie auch unsere Kunden einbeziehen können. Wir als Händler haben uns schon sehr früh und sehr klar zur Notwendigkeit von CO₂-Bilanzen in den Märkten geäußert und auch früh mit der Umsetzung begonnen. Die Standardisierung und Transparenz bei unseren CO₂-Bilanzen ist das gemeinsame Ziel in der Initiative. Wir sehen, dass das in der deutschen Stahlindustrie jetzt definitiv Einzug hält, auch wenn das aktuelle Marktgeschehen hier vielleicht etwas verzögernd wirkt.
Welche Rolle spielt in diesem Prozess die digitale Kompetenz im Unternehmen?
Als Handelsunternehmen ist unser Geschäftsmodell, immer vorrätig und lieferfähig zu sein – gerade wegen der Anstrengungen der Kunden, eigene Lagerbestände zu verringern. Gleichzeitig dürfen wir nicht ein Wolkengebirge an schwergängigen Beständen vorhalten. Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Man kann heute mit künstlicher Intelligenz den Einkauf vorausschauend optimieren: Bestandsmanagement ist dazu das Stichwort. Hier sind wir mitten in einem Prozess, die Qualität unserer Daten zu verbessern und über Erfahrungsdaten eine entsprechend rationelle Bestandsführung zu ermöglichen. Dazu ist auch die Anschlussfähigkeit unserer Daten an die der Lieferanten wie die der Kunden herzustellen. So erschließt die Digitalisierungsstrategie ein wichtiges Potenzial der Kostenoptimierung. Ein anderer wichtiger Teil der Digitalisierung findet dann auf der Fläche statt, mit einer optimierten und zunehmend automatisierten Lagerlogistik. Nicht nur unsere Industriekunden, auch wir als Händler sind also mitten in der digitalen Transformation.
Wie weit ist denn bei den Kunden die Offenheit von Standards und von Daten schon entwickelt, damit Lieferketten unternehmensübergreifend digital abgebildet werden können?
Wir sind überrascht, wie schnell sich diese Digitalisierung derzeit überall vollzieht. Nur als Beispiel: Über die cloud-basierte Plattform Integrity Next können wir bei unseren Lieferanten prüfen, inwieweit ein Unternehmen nach dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz arbeitet, ob russische Wertschöpfung oder Kinderarbeit vorliegt und nach welchen industriellen Standards der CO2-Footprint garantiert wird. Das ist im Grunde eine Art Lieferantenbewertung, die man damit realisieren kann und die auch nachgefragt wird. Die meisten Lieferanten bedienen schon solche Plattformen und Datenräume, um im Geschäft zu bleiben. Wenn wir handeln, geht es also nicht mehr nur technisch um Stahl, sondern um seine digitale DNA. Ein Stück Stahl ist ein Datenträger. In diesem Bereich aktiv zu sein, ist für uns eine echte Investitionsaufgabe. Sie ist auch die Grundlage für eine Portfolioerweiterung, ohne die wir nicht zukunftsfähig wären.
Tragfähige Entscheidungen zu diesen großen globalen und digitalen Herausforderungen zu treffen, geht das in einem familiengeführten Unternehmen eigentlich leichter?
Ich bin davon überzeugt, dass der Mittelstand schneller reagieren kann als die großen Häuser. Ich sehe die Vorteile eines kleineren Unternehmens in der Flexibilität und der Geschwindigkeit bei den Entscheidungen. Vom Gründungsgedanken her sind Familienunternehmen auf Langfristigkeit ausgelegt, auf generationenübergreifende Werterhaltung. Man denkt hier nicht in Vertragslaufzeiten von Managern. Man denkt über konjunkturelle Zyklen hinaus und nimmt eben auch in einer rezessiven Phase Investitionen in Angriff, um sich Chancen und Zukunft zu sichern. Das geht nicht ohne Offenheit und die Bereitschaft auch den Mitarbeitern zuzuhören, die mit neuen Erfahrungen von außen kommen. Das ist nötig, wenn ein Unternehmen gleichzeitig zu konsolidieren und zu erweitern ist.
Interview: Hans Gäng, Sommer 2024